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Die Meerzwiebel

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2017-04-17 2017-04-17 17.04.2017

Es wird Zeit, dass der Sommer sich dem Ende neigt.
Mit Trockenheit und Hitze hat er seine Spuren hinterlassen. Das einjährige, ehedem grüne, satte „Chorta“ ist braun und gibt der Landschaft einen müden, vergänglichen Hauch. Nur manchmal, wenn die Abendsonne tief steht, hat es noch einen goldenen Schimmer. Überall raschelt es in der vertrockneten Pflanzenwelt, wenn die kleinen Eidechsen auf Jagd sind, oder wenn die scheue, schöne, große Smaragdeidechse zur Sicherheit schnell im Gebüsch verschwindet. Unter meinen Füßen knistert es auf den schmalen alten Pfaden.
Die Vögel haben sich schon lange ins kühle Tal zurückgezogen, selbst der Igel, der uns sonst jeden Abend besucht, scheint einen „Sommerschlaf“ zu halten. Nur noch die mehrjährigen Sträucher und Bäume, wie der Mastix, die Zistrose und der Salbei, die Steineichen und die Kiefern, halten das grüne Bild der Insel aufrecht.
Nun wartet alles sehnlichst auf den ersten Herbstregen. Auf den Regen, der endlich den Staub löscht, der die Sicht nach Euböa wieder klärt und Abkühlung in die Nächte bringt.
Die einzigen, die anscheinend nicht darauf warten, sind die leuchtend rosa blühenden Cyclamen und die weiß blühenden Meerzwiebeln.
In ihren Knollen bzw. Zwiebeln ist genug Kraft für die Blüten gespeichert.
Noch heute ist es bei uns auf der Insel Alonissos Brauch, zum Jahreswechsel zwei dieser Meereszwiebeln zusammengebunden über die Eingangstür zu hängen. Ihre Kraft, symbolisiert eben durch die pralle Zwiebel, soll für das kommende Jahr auf Haus und Hof übergehen. Wer diesen Brauch gerne auch zum Schutze übernehmen möchte, damit nur Gutes Einlass finde und alles Böse abgehalten werden möge, der kann bei Homer im X. Gesang/285 ff. seiner „Odyssee“ den Ursprung dieses Gedankens nachlesen:

Aber wohlan! Ich will dich vor allem Übel bewahren!
Nimm dies heilsame Mittel

Also sprach Hermeias und gab mir die heilsame Pflanze,
Die er dem Boden entriss, und zeigte mir ihre Natur an:
Ihre Wurzel war schwarz und milchweiß blühte die Blume;
Moly wird sie genannt von den Göttern. Sterblichen Menschen
Ist sie schwer zu graben; doch alles vermögen die Götter.

Der tapfere Odysseus erhielt diese „Moly“ zu seinem Schutz von Hermes, dem „Postillion“ der Götter und Göttinnen. Wie in manchen Kreisen vermutet wird, soll damit die Meerzwiebel gemeint sein. Odysseus’ Gefährten waren schon längst von der Zauberin Kirke in Schweine verwandelt worden und wurden mit Eicheln gemästet. Er aber hatte die Gnade, sich vor ihrer Bezauberung und Verzauberung zu schützen. Er wurde nicht von ihr bezirzt, dank dieser Zauberpflanze namens „Moly“. Kein Wunder, dass die Meerzwiebel als starke Pflanze, ja sogar als Zauberpflanze ihren Ruf hat.
Oft sitzen viele dieser Zwiebeln ganz dicht und geballt beieinander. Dann drängen sie sich förmlich aus der Erde, als wenn kein Platz mehr wäre. Über 2 kg schwer können sie werden, mit einem Durchmesser von 15 cm, wenn man sie denn unter Mühen als Ganzes herausgraben konnte. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Speisezwiebeln. Aber von ihrer Ähnlichkeit darf man sich nicht täuschen lassen. Als Zauberpflanze kann sie natürlich nicht harmlos sein! Die Zwiebel ist hochgradig giftig, kann sogar tödlich wirken.
Auch in Blättern und Blüten stecken Giftstoffe. Daher kann sie sich ungehindert vermehren, da weder Raupen, noch Schnecken oder anderes Getier sie zum Verzehren wählen würden.
Trotz oder gerade wegen ihrer Giftigkeit wurde sie schon im Altertum als Heilpflanze bei Gelbsucht, Krämpfen und Asthma verwendet und als Brechmittel benutzt.
Heute weiß man, dass ihre Wirkung auf den sog. Digitalisglykosiden beruht. Daher war sie ein ganz wichtiges Heilmittel bei Wassersucht, gerade wegen der Wirkung auf das Herz. An ihre Stelle ist im 18.Jahrhundert der „Rote Fingerhut“ (Digitalis purpurea) getreten.
Heute verwendet man die Meerzwiebel meist in Kombination mit anderen Heilpflanzen bei Kreislaufschwäche und Herzinsuffizienz. Zur Eigenbehandlung ist sie selbstverständlich nicht geeignet.
Den ganzen Sommer über kann man die alten Meerzwiebelblätter vom Vorjahr und die vertrockneten Blütenstängel dieser Lilienpflanze sehen, die nur in Meeresnähe gut gedeiht. Die grünen neuen Blätter treiben erst nach der Blüte im Oktober.
Dagegen erscheinen die ersten Meerzwiebelblüten bereits Ende August. Die Knospen durchstoßen an manchen Stellen wie ein Zeigefinger die harte Tonerde und schieben sich ans Licht. Sie sprießen sogar aus der Zwiebel, wenn diese ausgegraben wurde. Für mich sind ihre Blüten die Vorboten des Herbstes. Sie haben ihre innere Uhr. Sie blühen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Sie brauchen kein Wasser.
Wenn dann der erlösende Regen kommt und alles aufatmet, dann haben sie schon seit langem ihre wunderschönen Blüten entfaltet, weiß wie Milch. Von weitem sind sie sichtbar und leuchten im Kontrast mit dem tief blauen Meer wie ein Geschenk des Himmels.

Anmerkung: Zitat aus Homers „Odyssee“ in der Übersetzung von J.H. Voß

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